Wenn der Coronavirus-Detektiv ermittelt

Düsseldorf – Jede Labormeldung kann den nächsten Großalarm auslösen und sein Team an die Grenzen bringen. «Ein Altenheim, eine Flüchtlingsunterkunft. Am besten am Freitagabend kurz vor dem Wochenende.»

Lutz Ehlkes (37) sitzt im zehnten Stock eines schmucklosen Bürobaus am Düsseldorfer Hauptbahnhof. Er ist einer jener Coronavirus-Detektive, die seit Wochen bundesweit in jedem Gesundheitsamt gegen die Pandemie kämpfen.

Die Aussicht über Düsseldorf ist prima. Nur hat Epidemiologe Ehlkes derzeit wenig Zeit, aus dem Fenster zu gucken. «Seit März bin ich praktisch ununterbrochen im Einsatz», sagt er. Mit inzwischen fast 50 Kollegen ist er in Düsseldorf dem Coronavirus auf den Fersen. «Was die an Überstunden abreißen und Einsatzbereitschaft an den Tag legen, hätte ich vorher nicht für möglich gehalten.»

Kontaktaufnahme mit Infizierten

Wenn ein Infizierter angerufen wird, läuft das nach einem bestimmten Schema ab: «Wir informieren die Getesteten darüber, dass sie sich angesteckt haben. Dann fragen wir sie, wie es ihnen geht, ob sie Symptome spüren, und sorgen dafür, dass sie nicht mehr auf der Straße rumlaufen. Später in einem zweiten Anruf versuchen wir ihre Kontaktpersonen zu ermitteln, um die dann zu kontaktieren und ebenfalls unter Quarantäne zu stellen», sagt Ehlkes.

Dazwischen bekommen die Infizierten etwa eine Stunde Zeit, um sich zu sortieren und nachzudenken, mit wem sie alles Kontakt hatten. Kontakt bedeutet: «15 Minuten Face to Face – ungeschützt.» Es genügt aber auch schon ein kürzerer Körperkontakt, vor allem, wenn dabei Körperflüssigkeiten fließen: «Ein Kuss – das war’s.»

Vier bis sechs Tage nach der Ansteckung breche die Krankheit in der Regel aus. Zwei Tage vor dem Ausbruch werde der Angesteckte selbst zum Überträger. Von diesem Zeitpunkt bis zum Testergebnis vergeht Zeit. Um diesen Zeitraum geht es den Virus-Detektiven.

Kontrollanrufe bei Alleinstehenden

Alleinstehende und Vorerkrankte werden in den Tagen darauf noch mehrmals angerufen, denn das Coronavirus ist tückisch: «Wir hatten Fälle, die fühlten sich prächtig – und am nächsten Tag ging es ihnen so schlecht, dass sie nicht mal mehr den Krankenwagen rufen konnten.»

«Zuerst hieß es: Ich war in Heinsberg auf dieser Karnevalsparty. Dann hieß es: Ich war in Ischgl – das waren zehn Fälle an einem Tag.» Einer der ersten Infizierten hatte 100 Kontaktpersonen. «Das hat uns ziemlich überrannt. Alle mussten informiert und instruiert werden, dass sie ab sofort in Quarantäne sind.»

Mit ganz praktischen Problemen: «Wer steht heute noch im Telefonbuch? Wer nicht erreicht werden will, den erreicht man nicht.» Internetportale wie LinkedIn hätten in manchem Fall zum Ziel geführt. Eilig wurde das Team aufgestockt. Sogenannte Containment Scouts kamen, oft sind das Medizinstudenten. Containment heißt Eindämmung.

Irgendwann schien der Kampf aussichtslos: «Mitte März hatten wir exponentielles Wachstum.» Doch dann griffen die Maßnahmen und die Zahlen sanken. «Es hat super funktioniert», sagt Ehlkes. Durch die Seuchenschutzmaßnahmen ist die Zahl der Kontaktpersonen rapide gesunken.

Suche nach stillen Überträgern

Der «Super-GAU», dass ist derzeit ein infizierter Bewohner eines Pflegeheims oder ein infizierter Patient auf der Krebsstation. «Da machen wir dann Abstriche von allen Mitarbeitern, um den einen zu finden, der das Virus reingebracht hat, sonst steckt der alle an.»

Bei einem Ausbruch in einem Flüchtlingsheim half es, ein leerstehendes Hotel anzumieten und alle aus der Einrichtung zu holen, den Infizierten und seine Kontaktpersonen separat unterzubringen: «Im Hotel hat sich niemand mehr angesteckt.»

Wenn Ehlkes raus muss an die Seuchenfront, hat er eine blau-gelbe Jacke an – mit vier Sternen drauf und dem Aufdruck: Public Health Authority. «Das macht Eindruck – gerade bei Leuten, die kein Deutsch sprechen.»

Schon lange geht es nicht mehr darum, die Infektionsketten rückwirkend nachzuvollziehen. «Das konnten wir schon relativ früh nicht mehr.» Inzwischen geht es nur noch darum, die Pandemie einzudämmen.

Die Meisten sind dankbar für den Anruf, haben Verständnis für die Maßnahmen und sich bereits beim Auftauchen der Symptome selbst in Quarantäne begeben, aber es gibt Problemgruppen: «Leute, die Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, die aus falschem Pflichtbewusstsein krank zur Arbeit gehen», sagt Ehlkes. Außerdem Drogensüchtige oder psychisch Kranke, von denen sich nicht alle sofort an die Auflagen gehalten hätten.

Angst vor einer zweiten Welle

Die größte Problemgruppe aber sind die stillen Überträger ohne Symptome, die von ihrer eigenen Infektion gar nichts mitbekommen und von denen das Gesundheitsamt nichts erfährt. Sie machen etwa die Hälfte der Infizierten aus oder sogar mehr, keiner weiß das so genau.

Wie bei fast jeder Epidemie sind sozial Schwache besonders gefährdet: «Enge Wohnverhältnisse, Gemeinschaftsräume – das sind potenzielle Pulverfässer.» Der erste Fall in Düsseldorf lebte mit seiner Familie dagegen in einem großen Haus: «Der hat sich sofort in eine Einliegerwohnung zurückgezogen und nicht einmal seine Familienangehörigen angesteckt.»

Sorgen macht dem Epidemiologen, dass es im November zu einer zweiten Welle kommen könnte – parallel zur Grippewelle. «Eine Doppelinfektion ist natürlich noch viel gefährlicher.»

Fotocredits: Marcel Kusch
(dpa)

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