Wir sind die Generation Sandwich, na und?

Ortenberg – Der Wochenplan von Jule Walter ist vollgepackt mit Terminen – so vielen, dass sie kürzlich einen schulfreien Brückentag übersah. Also schickte sie ihren Sohn in den Unterricht.

Das Leben der 36-Jährigen aus Ortenberg in Baden ist eng getaktet: Sie arbeitet 15 Stunden wöchentlich als Sozialversicherungskauffrau bei einer Krankenkasse. Sie kümmert sich um ihre drei und sieben Jahre alten Jungs. Sie kümmert sich um den Haushalt. Und nicht zuletzt um die kranken Großeltern ihres Mannes, die im selben Haus leben.

«Ich bin von den alten und den jungen Menschen meiner Familie gleichermaßen gefordert und versuche, alles unter einen Hut zu bringen», sagt Jule Walter.

Damit ist sie eine typische Vertreterin der sogenannten Generation Sandwich, die von Kindern einerseits und zunehmend kränkeren Eltern oder Großeltern andererseits in Anspruch genommen wird. Das Phänomen fand Anfang der 1990er Jahre Eingang in den deutschen Sprachschatz. Demnach bezeichnet es die mittlere Generation, die Verpflichtungen gegenüber der jüngeren und der älteren Generation hat – also wie eine Scheibe Schinken zwischen zwei Brotscheiben eingeklemmt ist.

Zeit ist extrem knapp

Zeit – das ist für die zweifache Mutter Jule Walter etwas Rares. Sie gehört zu der großen Gruppe der Menschen, die Angehörige in den eigenen vier Wänden betreuen. In Deutschland leben nach offiziellen Zahlen rund 3,4 Millionen Pflegebedürftige. Von denen werden gut drei Viertel zu Hause versorgt, zumeist allein durch Angehörige. 74 Prozent der Pflegenden sind Frauen.

Nach den Ergebnissen einer Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach von 2015 unterstützen fast alle Frauen mittleren Alters ihre Eltern beziehungsweise Schwiegereltern in irgendeiner Form. Und etwa jede Fünfte dieser Frauen hat demnach auch schon die Pflege eines Eltern- oder Schwiegerelternteils übernommen, sei es vorübergehend oder auf Dauer. Tendenz steigend, urteilt Silke Niewohner, Beraterin für Work-Life-Balance aus Recklinghausen. «Das Phänomen nimmt zu.»

Das habe mehrere Gründe: Frauen gebären in höherem Alter. So sind die Kinder noch recht klein, wenn deren Großeltern womöglich der Fürsorge bedürfen. Der Trend werde dadurch verstärkt, dass Kinder später flügge werden als vor 20 Jahren: Auch weil Wohnungen vielerorts knapp und teuer sind, bleibe der Nachwuchs länger im Jugendzimmer.

Nesthocker sind vor allem junge Männer. Das belegt der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes 2017: Mit Erreichen der Volljährigkeit leben noch fast alle jungen Männer als ledige Söhne im Elternhaus. Mit 23 Jahren sind es noch 50 Prozent.

Auch der Sohn des 51-jährigen Felix H., der seinen richtigen Namen nicht in den Medien lesen möchte, wohnt zu Hause. Der Vater kann mit dem Bild von der Generation Sandwich viel anfangen. Er kümmert sich um seine krebskranke Mutter und fühlt sich auch für den 19-jährigen Sohn verantwortlich.

Zwei Bedürftige: Mutter, 75 und Sohn 19

Für seine in einer 30 Kilometer entfernten Gemeinde lebende Mutter erledigt er Einkäufe und Behördenkorrespondenz. Er begleitet die 75-Jährige zu Ärzten und besucht sie, wenn sie ins Krankenhaus muss. Der Zeitaufwand ist für den Selbstständigen aus der Region Stuttgart misslich. «In der Zeit müsste ich eigentlich arbeiten.»

Auf der anderen Seite beobachtet Felix H., dass sein Sohn null Bock auf Hilfe im Haushalt hat: «Zu jedem kleinsten Dienst, etwa Mineralwasserkisten holen oder Terrasse kehren, muss man ihn auffordern – meist mehrmals.» Von selber komme der 19-Jährige nicht darauf, ihm und seiner voll berufstätigen Frau unter die Arme zu greifen.

Die Konstellation hat für Felix H. gravierende Folgen. «Meine persönliche Freiheit wird eingeschränkt. Die Beine hochlegen kann ich nur selten.» Freie Zeit für sich und seine Frau ist Luxus. Ausnahme: Morgendliche gemeinsame Spaziergänge sind den beiden heilig. Auch gelegentliche Verabredungen zum Essen oder Kino helfen dem Paar, die Partnerschaft nicht zu sehr unter der Last der Pflichten zu vernachlässigen.

Jeder darf Auszeiten nehmen

Damit tun sie genau das Richtige, meint Albrecht Wehner vom Gesundheitsmanagement der Techniker Krankenkasse, kurz TK. Er sagt: «Menschen, die unter einer Doppelbelastung leiden, müssen ganz besonders darauf achten, ihre Ressourcen zu stärken.» Dazu gehöre, sich bewusst Auszeiten von jeglicher Betreuung zu nehmen.

Auch Jule Walter etwa hält an ihrem Hobby Handball fest. Dabei verbringt sie jeden Tag mindestens eine halbe Stunde bei den pflegebedürftigen Großeltern ihres Mannes. Die Sorge für die alten Herrschaften hinterlässt Spuren. «Da bleibt vieles auf der Strecke, nicht nur die Kinder, sondern auch bei Ehe und Partnerschaft», sagt die Frau mit schulterlangen Haaren und Brille. «Das ist auch für einen Mann nicht so einfach, wenn die Frau immer nur wegrennt und nach allen anderen guckt.» Ihrem ein Jahr älteren Mann Thomas fehlt die Spontanität früherer Jahre, die Kurztrips auch ohne Absprache mit anderen Helfern erlaubte.

Arbeitgeber ist ein wichtiger Baustein

Bei der Arbeit stößt Jule Walters Engagement auf großes Verständnis. «Wenn ich mal wegen Kindern oder Schwieger-Großeltern früher weg muss, wird das akzeptiert», erzählt sie. «Die fragen mich eher, woher ich meine Energie nehme.»

Ein verständnisvoller Arbeitgeber ist für Menschen mit Mehrfachbelastung Gold wert. Die Techniker Krankenkasse sieht die Chefs in der Verantwortung. «Was Eltern von Kindern und/oder pflegende Angehörige besonders brauchen, ist eine ausgewogene Work-Life-Balance», sagt TK-Gesundheitsexperte Wehner. Arbeitgeber können das etwa mit flexiblem Zeitmanagement wie Gleitzeit unterstützen.

Politik ist aktiv geworden

Auch der Gesetzgeber hat erkannt, dass er den Kümmerern das Leben leichter machen muss. So wurde die Arbeitsverhinderung, also die Freistellung von bis zu zehn Tagen für akute Fälle, 2015 ergänzt durch Pflege- und Familienpflegezeit. Es besteht seitdem ein Anspruch auf Familienpflegezeit, also auf eine teilweise Freistellung bei einer Mindestarbeitszeit von 15 Wochenstunden. Die Pflegezeit ermöglicht es den Arbeitnehmern, sich bis zu sechs Monate vollständig oder teilweise vom Job befreien zu lassen.

Für die längerfristigen Einkommensverluste kann ein zinsloses Darlehen, für die Arbeitsverhinderung ein Unterstützungsgeld beantragt werden.

Grob geschätzt bekommen nach Angaben des Familienministeriums 9000 bis 13.000 Helfer pro Jahr Pflegeunterstützungsgeld. Viel weniger Interesse besteht an den zinslosen Darlehen: Seit Inkrafttreten der Regelungen wurden nur 1217 Anträge gestellt. Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass rund 80.000 Menschen die Pflegezeit oder eine Familienpflegezeit pro Jahr in Anspruch nehmen.

Besonders schwierig gestaltet sich die Sandwich-Situation oft für Selbstständige. Felix H. erlebt es so. Auch der 56-jährige Benedikt M., der eigentlich anders heißt, muss mit den Folgen reduzierter Arbeitszeit allein klarkommen. Ohne staatliche Hilfen wie die Pflegezeit. Selbstständige müssen abgesprungene Kunden, die den Zeitmangel nicht hinnehmen, mühsam zurückgewinnen.

Seit kurzem leben in der geräumigen Wohnung von Benedikt M. im Großraum Stuttgart drei Generationen und ein junger Hund. Da sind er und seine Frau, der 23-jährige, berufstätige Sohn und neuerdings seine 86-jährige Mutter.

Der Sohn hat zwar eigene Freunde und Unternehmungen. Er ist bei beruflichen Fragen aber noch auf die Hilfe des Vaters angewiesen. Auch das Wäschewaschen wird gern der Mama überlassen. Er ermuntere den Sohn zum Ausziehen, sagt der Vater. Aber der Komfort zu Hause mit dem immer gefüllten Kühlschrank und der angespannte Wohnungsmarkt ließen den jungen Mann das Ausziehen auf die lange Bank schieben.

«Das ist Familie»

Nach dem Tod seines eigenen Vaters war es für den IT-Spezialisten eine Selbstverständlichkeit, die Mutter aufzunehmen. «An eine Heimunterbringung haben wir gar nicht gedacht», erzählt der geschwisterlose Mann. Es gehe ihm nicht um Pflicht. «Das ist Familie. Da, finde ich, muss Familie auch zusammenhalten.» Die alte Dame helfe beim Kochen, bügle, backe Kekse und Kuchen. Benedikt M. fühlt sich mit dem Geben und Nehmen wohl.

Verschiedene Studien zeigen, dass auch andere es so empfinden, dass das menschliche Miteinander durchaus ein positiver Faktor ist. Der eigentliche Stress besteht meist darin, Familie und Beruf zu vereinbaren. Nach der Allensbach-Studie etwa sind die Frauen aus der doppelt und dreifach geforderten Altersgruppe überwiegend zufrieden.

Nicht zerdrückt, sonder stabil

Unerträglichen Druck von beiden Seiten auf die mittlere Generation sieht auch der Altersforscher Harald Künemund nicht. Der Begriff Sandwich suggeriere, dass es eine Last sei, Eltern und Kinder zu haben. «Faktisch können aber beide Generationen in Belastungssituationen helfen: Wenn die eigenen Kinder klein sind, sind die Eltern in aller Regel noch nicht hilfe- oder pflegebedürftig, und die Kinder sind meist schon erwachsen, wenn die Pflege der Eltern ansteht», sagt der Professor von der Universität im niedersächsischen Vechta.

Vielleicht erdrücken die Scheiben des Sandwichs den Aufschnitt nicht, sondern geben dem Leben Halt, Orientierung und Bedeutung. Jule Walter aus Ortenberg macht den Eindruck, dass ein souveräner Umgang mit dem gleichzeitigen Betreuen von Kindern und älteren Angehörigen möglich ist. Sie ist zwar stark eingespannt, aber mit sich und ihrem derzeitigen Leben im Reinen. «Alles, was ich tue, mache ich von mir aus und freiwillig, nicht weil irgend jemand etwas von mir erwartet.»

Fotocredits: Uli Deck,Uli Deck,Uli Deck,Uli Deck,Andreas Arnold,Georg Wendt,Kay Nietfeld,Uli Deck
(dpa)

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