Berlin – Alles dreht sich nur um Sex, Sex und noch mal Sex. Das Verlangen danach nimmt derart überhand, dass jede Gelegenheit genutzt wird: ausschweifende sexuelle Fantasien, die von der Arbeit abhalten, Telefonsex, der ins Geld geht oder ständig wechselnde Sexualpartner.
Der Betroffene fühlt sich trotz allem immer weniger befriedigt. Er fühlt sich schlecht, innerlich leer – und leidet. Ungeachtet dessen sucht er weiter den ganz besonderen Kick. Womöglich ist er sexsüchtig.
«Eine offizielle Diagnose Sexsucht gibt es bislang noch nicht, aber Kriterien für suchtartiges sexuelles Verhalten», sagt Christoph Joseph Ahlers. Er ist Klinischer Sexualpsychologe in Berlin und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft. Einig sind sich die Fachleute darin, ab wann sexuelles Verlangen krankhaft wird. «Das ist der Fall, wenn das eigene Verhalten zum Zwang wird und einen Leidensdruck auslöst», erläutert der Psychologe Jannis Engel. Er ist im Arbeitsbereich für Klinische Psychologie und Sexualmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover tätig. Der Leidensdruck kann sich neben innerer Leere auch in Scham und Selbstverachtung äußern.
«Die Abhängigkeit zeigt sich darin, dass jemand längerfristig die Kontrolle über sein sexuelles Verhalten verliert und trotz negativer Konsequenzen nicht davon lassen kann», sagt Frauke Petras, Sexualberaterin bei Pro Familia in Berlin. Der Betroffene vernachlässigt Beruf, Partnerschaft, Familie und Freunde. So kann eine bestehende Beziehung ins Wanken geraten. Mitunter riskiert der Betroffene sogar den Verlust seines Arbeitsplatzes, wenn er wegen seines exzessiven sexuellen Verhaltens seine Pflichten im Job vernachlässigt. «Es drohen Vereinsamung und Verwahrlosung», erklärt Engel.
Wie viele Menschen in Deutschland unter Sexsucht leiden, ist nicht bekannt. Schätzungen gehen von Hunderttausenden aus. Vermutet wird, dass es eher Männer als Frauen trifft. Für Betroffene hat sexuelle Betätigung die gleiche Funktion wie für Alkoholiker das Trinken von Alkohol. «Negative Gefühle sollen vergehen, positive entstehen», erläutert Ahlers. Negativen Gefühlen wie etwa innere Leere, Halt- und Perspektivlosigkeit oder auch Langeweile wird sexuelle Erregung als positives Gefühl entgegengesetzt. Auf diese Weise würden im Körper Stoffwechselveränderungen ausgelöst, die kurzzeitig eine Stimmungsaufhellung bewirken und negative Gefühle überlagern.
Von Dauer ist das indes nicht. Aber nicht nur das. Irgendwann wird das intensive Lustgefühl, das man anfangs beim «Problemlösen mit Sex» erlebt hat, nicht mehr erreicht. Daher werden die sexuellen Aktivitäten fortwährend wiederholt und teils auch gesteigert. Das intensive Lustgefühl bleibt indes aus. Das führt zu Frust und Dosissteigerung – und vor allem: Das zugrundeliegende Problem bleibt bestehen.
Wird auf Sex verzichtet, dann kommt es zu regelrechten Entzugserscheinungen mit Nervosität, Depressivität und Aggressivität. «Bloße Sex-Abstinenz ist keine ursachenbezogene Lösung des Problems», erklärt Ahlers: «Es ist wie ein Furunkel, den man überschminkt, statt die Entzündung zu bekämpfen.» Professionelle Hilfe suchen sich Betroffene oft erst dann, wenn der Leidensdruck nicht mehr auszuhalten ist. Hinweise, wo es Unterstützung gibt, geben Experten in Beratungsstellen wie etwa Pro Familia. «Eine Standard-Therapie gibt es nicht», sagt Engel.
Auch Ahlers sagt, dass die Behandlung eines Sexsüchtigen immer vom Einzelfall abhängt. «Bei einer Therapie muss ausgelotet werden, welches konkretes Problem mit dem exzessiven sexuellen Verhalten überlagert werden soll», erklärt der Sexualpsychologe. Vielleicht fühlt sich der Betroffene benachteiligt oder nicht wertgeschätzt, vielleicht ist er arbeitslos und depressiv. Eine Psychotherapie kann dann helfen, dem Betroffenen eine neue Lebensperspektive aufzuzeigen.
Der Betroffene soll über die Therapie die Kontrolle über sein sexuelles Verhalten erlangen. Liegt die Ursache für die Sucht darin, dass der Betroffene nicht die Nähe eines festen Partners oder einer festen Partnerin zulassen kann, dann können mitunter sogenannte Intimitätstrainings helfen. Grundsätzlich gilt: Im Gegensatz zu einer Alkohol- oder Drogensucht geht es bei der Sexsucht jedoch nicht darum, dass der Betroffene abstinent wird.
Zur Person:
Jannis Engel forscht zu klinischen und neurobiologischen Mechanismen bei Sexsucht. Mit seinen Kollegen hat er dazu aktuell eine Studie auf den Weg gebracht. Teilnehmer der Studie sind Männer zwischen 18 und 65 Jahren mit einem exzessiven sexuellen Verhalten. Mit Ergebnissen wird nicht vor 2018 gerechnet.
Fotocredits: zerocreatives,Christoph Petras,Jannis Engel
(dpa/tmn)