Berlin – Der Schlüssel ist verlegt, die Brille nicht mehr auffindbar. Was aber, wenn man sich nicht mehr an den Namen des Partners oder den der eigenen Kinder erinnert? Wenn die Erinnerungen an ihr Leben verblassen, verlieren Menschen ein Stück ihrer Identität.
In der Musik sehen Neurologen und Therapeuten einen Weg, vergessene Erinnerungen wieder zu erwecken. Kann die Musik ein Weg sein, die eigene Identität länger zu erhalten?
In dem offenen Gemeinschaftsraum einer Demenz-WG in Berlin-Neukölln haben sich die Bewohner Almute Hohensee, Luise Barby und Gerhard Poludniok gemeinsam mit Pflegerin Ivanka Grigorova und Musiktherapeutin Julia Pohl an einen Tisch gesetzt. Die Blätter der Bäume vor dem Fenster malen Schattenspiele auf die Scheibe. An den hellen, gelben Wänden hängen Bilder der Bewohner – auch eins mit Pohl und ihrer Gitarre ist darunter. Die 46-Jährige packt ihre Gitarre aus und beginnt zu spielen und zu singen.
Almute Hohensee setzt textsicher mit ein. Die 76-Jährige hat sich zwei Rasseln gegriffen und bewegt sie im Takt der Musik. Spätestens beim Lied «Pack die Badehose ein» singen oder summen alle mit.
Gegen Schwere und Traurigkeit
Wenn man Demenz mit Schwere und Traurigkeit verbindet, so wirkt es hier, als habe die Erkrankung in der Musikstunde eine Pause. Texte alter Lieder kommen hervor, fröhlich werden sie mitgesungen. Die Augen sind munter. Mal füllen sie sich auch mit Tränen. «Das Lied habe ich immer mit meiner Schwester gesungen», erinnert sich Hohensee. Obwohl nicht alle Bewohner so selbstbewusst mitmachen wie sie, gibt es an dem Tag kein Gesicht, das nicht strahlt. Viele der Bewohner leiden an Demenz, können sich nicht mehr an alle Freunde und Verwandte erinnern. Aber die Musik bleibt.
Für Musiktherapeutin Julia Pohl ist die Musik ein Schlüssel zu Ereignissen der Vergangenheit. Außerdem wirke Musik beruhigend und vertraut – wichtige Gefühle für Demenz-Kranke. Besonders, wenn ein Mensch wegen seiner Erkrankung in ein neues Zuhause ziehen musste, gebe es in ihm viel Unruhe und Unsicherheit. Musik sei etwas Bekanntes.
Nach Angaben der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft leiden in Deutschland derzeit 1,7 Millionen Menschen an Demenz. Bis zum Jahr 2050 soll die Zahl auf 3 Millionen steigen. Die häufigste Form ist die Alzheimer-Demenz, bei der sich fehlgefaltete Proteine zwischen den Nervenzellen ablagern und das Gehirn schädigen. Der Hippocampus – der Teil des Gehirns, der Erinnerungen abruft – ist von diesen sogenannten Plaqueablagerungen früh betroffen. Erkrankte verlieren zunehmend die Fähigkeit, sich zu erinnern.
Das Musikgedächtnis
Doch das Musikgedächtnis scheint vom Hippocampus weitestgehend unabhängig zu sein. Das fanden die Neurowissenschaftler Carsten Finke und Christoph Ploner von der Berliner Charité heraus. Sie untersuchten einen Patienten mit einer schweren Amnesie, dessen Hippocampus geschädigt war. Der Mann konnte sich in Tests trotz seiner starken Gedächtnisstörung problemlos an Musikstücke erinnern – nicht jedoch an visuelle und verbale Reize.
Die Erkenntnisse ließen Rückschlüsse auf Patienten mit Alzheimer-Demenz zu, da hier der Hippocampus ebenfalls betroffen sei, das Musikgedächtnis aber noch funktioniere, sagt Finke. «Musik spricht unsere Emotionen an.» Durch diese emotionale Komponente der Musik könne es gelingen, bestimmte Erinnerungen wieder hervorzuholen.
In der Neuköllner WG hat es sich Almute Hohensee in ihren Sessel am Fenster gemütlich gemacht. Pflegerin Ivanka Grigorova bringt ihr ein Glas mit Bananensaft. Hohensee macht das Singen Spaß. Sie habe immer gesungen, bereits im Kinderchor. Auch selbst habe sie Musik gemacht. Daran erinnere sie sich gerne: «Kennt man noch von früher hier, allet. Und dit vergisst man nich‘ und verliert man auch nich‘.»
In Berlin bildet der «Campus Naturalis» Musiktherapeuten aus. «Wenn die Sprachfähigkeit nachlässt, gewinnen nonverbale Kommunikationsformen zunehmend an Bedeutung. Sie ermöglichen Patienten Emotionen zu äußern und sie aus ihrer Isolation herauszuholen», erklärt Catrin Krueger vom Campus. Besonders in den letzten Jahren sei das Interesse an der Ausbildung gestiegen.
Musik ist generell wichtig
Nach Angaben der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft ist Musik für demente Menschen generell wichtig. «Es muss nicht immer gleich eine Therapie sein», sagt Sprecherin Annika Koch. Es gebe zum Beispiel Alzheimer-Tanz-Cafés oder Trommelgruppen. «Musik kann Brücken zwischen Menschen mit einer Demenzerkrankung und ihren Angehörigen bauen und so auch ein neuer Weg zum Kontakt miteinander sein.»
Ob die Musik nachhaltig das Erinnerungsbewusstsein verbessert? Das sei schwer zu sagen, sagt Daniela Heemeier, stellvertretende Leiterin des ambulanten Pflegedienstes des
Unionhilfswerks, der die Neuköllner Demenz-WG betreut. Auf jeden Fall wirke die Stunde emotional nach.
Musiktherapeutin Julia Pohl ist sich sicher, dass diese Therapieform noch lange Bestand haben und gebraucht werde. «Die Menschen werden immer älter.» Vielleicht verändere sich die Art der Musik, vielleicht werde mehr Technik eingesetzt, aber die Musik bleibe.
Fotocredits: Christoph Soeder
(dpa)