Berlin – Nachbarn kann man sich in den seltensten Fällen aussuchen. Sie leben im gleichen Haus oder auf dem benachbarten Grundstück und sind oft nicht mehr als flüchtige Bekanntschaften.
Häufig liegt das auch an unterschiedlichen Lebensentwürfen oder abweichenden Tagesabläufen. Doch in Zeiten von Corona wandeln sich viele solcher Nachbarschaften zu kleinen Schicksalsgemeinschaften.
Während der Kontakt- und Reisebeschränkungen rückt das direkte Umfeld in den Fokus. «Ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn wirkt sich in vielerlei Hinsicht positiv auf die Lebensqualität aus – nicht nur in der Krise», sagt Christian Vollmann, Gründer des Nachbarschaftsportal «nebenan.de».
Ein gutes Verhältnis reduziert die Einsamkeit, bietet Sicherheit und ermöglicht Synergien, etwa wenn Nachbarn sich bei kleineren Arbeiten – mit genügend Abstand – gegenseitig unterstützen.
Die Nachbarn besser kennenlernen
Den Nachbarn gleich nach Hause einladen, empfinden viele Menschen als großen Schritt – und wäre derzeit durch die vorgeschriebenen Abstandsregeln auch eine Herausforderung. «Das Zuhause wird als eigenes Revier empfunden, zu dem man nicht jedem Eintritt gewährt», erklärt Psychologin Julia Scharnhorst.
Der Besuch der Nachbarn setze bei vielen Menschen ein gewisses Unbehagen frei. Wie finden die meine Wohnung? Kann ich mit ihrer Einrichtung mithalten? Dieses Vergleichen sei ein natürlicher Reflex, erklärt Scharnhorst.
Niedrigschwelliger als eine Einladung sei eine schlichte Begrüßung beim Einzug. Die Stippvisite habe sich über Generationen als Tradition etabliert, erläutert die Psychologin.
Beim ersten Beschnüffeln entsteht bereits ein grobes Bild des Gegenübers. «Früher waren Mitglieder einer Dorfgemeinschaft beispielsweise stärker aufeinander angewiesen. Durch das erste Kennenlernen konnte man unter Umständen den Nutzen des Neulings für die Gemeinschaft erkennen», erklärt Scharnhorst.
Kleine Gesten und Geschenke helfen
Ein kurzer Besuch zum Einzug ist auch für Vollmann die beste Basis für eine gelungene Nachbarschaft – und auch derzeit mit genügend Abstand möglich. «Der Aufhänger ist da und man kommt, ohne was zu wollen. Wenn ich nach drei Monate mich das erste Mal blicken lasse, um mir etwa die Bohrmaschine auszuleihen, kann das sehr unangenehm werden», sagt Vollmann. Einige würden sich dann aus Scham den Gang zum Nachbarn wahrscheinlich sparen, vermutet er.
Ein weiterer Tipp der Psychologin für einen guten Einstand: Die Nachbarn mal um Hilfe bitten und sich bei ihnen etwa eine Leiter ausleihen. Auch hier gebe es keinen Grund für Zurückhaltung. Im Gegenteil: Wer um Hilfe bittet, wirkt sympathisch. Zudem kann sich der andere hilfsbereit zeigen, was den meisten Menschen ein gutes Gefühl bereitet, erklärt Scharnhorst.
Die Neuen sollten es bei ihrem Einzug aber nicht übertreiben. «Hier gilt Augenmaß. Gegen kleine Aufmerksamkeiten wie einen Blumenstrauß spricht erstmal nichts», sagt Kommunikationsberaterin Eva Boos aus Berlin. Kleine Präsente seien aber nicht empfehlenswert, wenn dahinter strategische Ziele steckt. «Gemäß dem Motto: Ich habe dir immer wieder kleine Geschenke gemacht, nun wird es Zeit, dass du mal auf mein Haustier aufpasst», sagt Boos.
Für ein gutes Verhältnis sorgen
Aber sogar zerstrittene Nachbarschaften lassen sich wieder kitten. «Zeigen Sie den Willen, auf den Nachbarn einen Schritt zuzugehen, und gestehen Sie auch eigene Fehler ein», rät Boos.
Auf dieser Basis könne wieder ein offenes Gespräch entstehen. Wichtig ist zu überprüfen, ob die eigenen Ziele mit denen des Nachbarn übereinstimmen. Besteht dort ein Ungleichgewicht macht sich auf lange Sicht Missmut und Enttäuschung breit, erklärt Boos.
Ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn verstärke hingegen die Identifikation mit dem Wohnort und sorge für ein Gefühl der Zugehörigkeit, erklärt Vollmann. «In der Krise zeigt sich, wie wichtig ein bestehendes Vertrauensverhältnis zu den Nachbarn ist.»
Grundsätzlich können gemeinsame Aktionen, die über den Flur-Smalltalk hinausgehen, das Verlangen nach sozialem Austausch und Gemeinschaft stillen. Gemeinsame Aktivitäten sind aber keine Pflicht, und wohl eher die Ausnahme.
«Man muss keine enge Freundschaft zum Nachbarn aufbauen», erklärt Vollmann. Für ihn bedeutet eine gute Nachbarschaft, dass Menschen nicht aneinander vorbeilaufen, sich für die zufälligen Begegnungen etwas Zeit nehmen, ein grundlegendes Interesse am anderen zeigen – nicht nur, aber eben auch in der Corona-Krise.
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(dpa/tmn)