Ärzte verordnen zunehmend Opioide

Berlin (dpa) – Zum Entzug kommen Corinna Schillings Patienten teils aus eigener Initiative, teils weil Ärzte sie aufgeklärt und motiviert haben. Manche Betroffene gehen schon lange nicht mehr arbeiten, auch ein Freundes- und Familienkreis existiert teils nicht mehr.

Sie nehmen sogenannte Opioide als Schmerzmittel, die sich vom Morphin ableiten, und vor allem in den USA schon länger als großes Suchtproblem bekannt sind. «Insbesondere die älteren Menschen leiden darunter und haben stärkere Nebenwirkungen», sagt Schilling.

Anfang Juni schlug auch die Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht der Europäischen Union wegen steigender Zahlen von Drogentoten in der EU Alarm – in 79 Prozent der Fälle in Verbindung mit Opioiden. Nicht immer stammen solche Substanzen vom Schwarzmarkt.

In Deutschland sind die von Ärzten verordneten Mengen in den vergangenen Jahren sprunghaft gestiegen – laut «Jahrbuch Sucht 2017» der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen um knapp ein Drittel zwischen 2006 und 2015. «All diese Mittel haben ein hohes Abhängigkeits- oder zumindest Missbrauchspotenzial», schreibt darin der Arzneimittelmarkt-Experte Gerd Glaeske von der Universität Bremen. Die Wirkstoffe heißen etwa Fentanyl und Oxycodon.

Da Opioide in Deutschland in der Regel dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen, brauchen Ärzte für eine Verordnung spezielle Rezeptvordrucke. Es seien «notwendige Medikamente», wenn es etwa um schmerzarmes Operieren geht, sagt Schilling, die Fachärztin unter anderem für Anästhesie ist. Auch in der Versorgung von Tumorpatienten und als kurzzeitige Therapie sind die Mittel unumstritten.

Anders sieht es bei chronischen Schmerzpatienten aus, die über unspezifische Bauch-, Rücken- oder Kopfschmerzen klagen und die Stoffe vermehrt auch auf lange Sicht verordnet bekommen. Die Mittel würden als «Pflastertherapie» «oftmals zu schnell und zu hochdosiert» etwa bei Menschen mit Rückenschmerzen und Schmerzen durch Osteoporose eingesetzt, schreibt Glaeske. Demnach wird die Zahl der Abhängigen von stark wirksamen Schmerzmitteln in Deutschland auf 200 000 bis 300 000 Menschen geschätzt.

Der Körper entwickle eine Toleranz für Opiate, so Schilling. Nach einiger Zeit könne das weniger Schmerzlinderung bei gleicher Dosis bedeuten – Patienten müssen somit eine größere Menge einnehmen, um einen Effekt zu spüren. Setzen sie das Medikament ab, seien Entzugserscheinungen die Folge.

«Manche sagen, sie fühlten sich schlecht damit», nennt Schilling einen Grund, aus dem Patienten in die Vivantes-Fachpraxis für Schmerztherapie in Berlin kommen, um diese Medikamente abzusetzen. «Es ist nicht so, dass die Betroffenen immer euphorisch wären – viele sind eher müde, schlapp, stürzen häufiger mit der Gefahr von Frakturen oder haben Verstopfung.»

Allein im vergangenen Jahr sei die Zahl der verschriebenen Opioid-Packungen um 4,5 Prozent gestiegen – «ohne dass erkennbar wäre, dass die Patienten kränker geworden sind, oder dass es neue wissenschaftlich begründete Indikationen gäbe», sagte der Leiter des Schmerz-Zentrums an der Universitätsklinik Dresden, Rainer Sabatowski, kürzlich laut Wochenzeitung «Die Zeit».

In den USA gab es zuletzt Debatten über Opioid-Missbrauch, auch nach dem Tod von Popikone Prince an einer Überdosis Schmerzmittel. Wie dem Star ergeht es laut einem Report im Fachblatt «New England Journal of Medicine» täglich 90 Amerikanern – auch, weil manche Opioide bis zu 5000 Mal so stark seien wie Heroin.

«Wir haben hier in Europa und Deutschland nicht diesen dramatischen ärztlich verordneten Substanzmissbrauch in so breiter Menge wie in den USA», sagt Schilling. In Berlin beobachte sie aber durchaus, dass niedergelassene Ärzte «fleißig» Opiate verschrieben. «Wir haben uns hier dagegen entschieden, Vertreter der Pharmaindustrie zu empfangen», erläutert Schilling. Aber es sei nicht überall so, dass etwa als «Schmerz-Fortbildungen» titulierte Werbeveranstaltungen kritisch gesehen werden – zumal, wenn sie in Luxushotels stattfänden. Manchmal würden die Mittel aber auch aus Unwissenheit verschrieben, sagt Schilling.

Der Anstieg der verordneten Mengen in den vergangenen Jahren hat aber noch andere Ursachen. Er gehe in Teilen auf eine lange Zeit der Unterversorgung von Patienten mit Tumorerkrankungen zurück, so Experte Glaeske. Diese Versorgung sei «notwendig», zudem würden bei dieser Gruppe nur selten Abhängigkeitsentwicklungen beobachtet.

In den USA ist die staatliche Bekämpfung der Sucht angelaufen: Die Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention CDC veröffentlichten strengere Richtlinien zur Verschreibung. Um die Krise in den Griff zu bekommen, sei aber auch eine bessere Versorgung von Schmerzpatienten und die Entwicklung neuer, opioidfreier Therapieoptionen nötig, schreiben die Direktoren der US-Behörde für Gesundheit, Francis Collins, und der US-Behörde zur Suchtbekämpfung, Nora Volkow, im «New England Journal of Medicine».

Schmerzpatienten sind in einer schwierigen Lage, wie auch Schilling betont: «Es ist anspruchsvoll, diese Hilflosigkeit auszuhalten.» Um die Schmerzmittel auszuschleichen, würden die Dosen schrittweise halbiert. Es könne aber nicht jeder Patient wieder ein Leben ganz ohne das Medikament führen.

Fotocredits: Franziska Kraufmann

(dpa)

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