«Spazieren gehen ist wie eine kleine Flucht»

Leipzig (dpa/sn) – Der Leipziger Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar beobachtet während der Corona-Krise eine neue Welle der Wertschätzung für das Gehen.

«In der Zukunft werden mehr Menschen spazieren gehen als in den letzten Jahren», sagte der 58-Jährige im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur in Leipzig. Auch für die kommunale Städteplanung könnte der Spaziergangs-Boom Folgen haben, meint Weisshaar.

Frage: Haben wegen der Ausgangsbeschränkungen in der Corona-Krise mehr Menschen das Spazieren gehen für sich entdeckt?

Antwort: Es sind mehr Menschen zu Fuß unterwegs als man es sonst beobachtet. Das freut mich. Ich denke, das Phänomen hat zwei Ursachen: Zum einen sind viele andere Freizeitaktivitäten derzeit gar nicht möglich. Zum anderen, ein bisschen poetischer: Wir sind ja alle so ein bisschen eingesperrt, und man erlebt das Rausgehen jetzt als viel bedeutungsvoller. Bei dem verordneten Zuhause sitzen ist es auch einfach mal notwendig, vor der Haustüre eine kleine Wanderung oder einen Spaziergang zu machen. Und dabei entdecken jetzt viele neu, was für eine Freude das ist.

Frage: Was raten Sie Oster-Spaziergängern in diesem besonderen Jahr?

Antwort: Gerade an Ostern dürfte auf den herkömmlichen Spazierwegen in den Parks deutlich mehr los sein als in anderen Jahren. Dann ist es reizvoll, mal am Stadtrand oder in unbekannten Stadtgebieten herumzustrolchen. In ländlichen Regionen können Routen durch Wald oder Feldflur in den Nachbarort neue Wege aufzeigen. Die Schönheit darf mal zweitrangig sein. Die Neugierde kann uns zeigen, wie die Stadt und die Umgebung wirklich sind.

Frage: Wie verändert sich durch Corona das Verhältnis der Menschen zum Spaziergang?

Antwort: Ich glaube, die Menschen messen dem Gehen wegen der Beschränkungen eine neue Wertschätzung bei. Auch nach der Corona-Krise wird diese Wertschätzung bleiben. Aber bereits in den letzten Jahren ist der Gesundheitsaspekt des Gehens immer wichtiger geworden. Viele Menschen zählen ihre Schritte auf dem Smartphone. Um 10 000 Schritte zu erreichen, muss man seinen Arbeitsalltag irgendwie strukturieren. Ein Trick ist, das Auto auf einem Parkplatz etwas weiter weg zu parken, um noch ein paar Minuten zum Ziel zu laufen. Dadurch können sich Körper und Geist ein bisschen synchronisieren.

Frage: Viele Menschen arbeiten derzeit von zuhause aus. Was spricht da besonders für eine Runde im Freien?

Antwort: Spazieren gehen ist wie eine kleine Flucht. Man ist dadurch eine Stunde mal nicht erreichbar. Man sagt sich, jetzt funktioniere ich mal nicht, auch wenn auf dem Schreibtisch noch fünf Arbeiten liegen. Das tut gut, und dieser tägliche Spaziergang kann uns eine ganz gute Tagesstruktur geben, gerade in Zeiten von Homeoffice.

Frage: Stichwort Erreichbarkeit – viele Menschen telefonieren ja gerne beim Spazieren gehen. Ist das sinnvoll?

Antwort: Ich glaube, schlauer ist es, das Telefon zuhause zu lassen oder stumm zu schalten. Auch Musik hören kann man mal machen, sollte man aber nicht immer. Denn damit geht das sinnliche Erleben der Welt verloren. Das Gehen ist ja auch ein wenig eine Übung, ohne mediale Ablenkung, ohne permanente Berieselung mit Musik auszukommen. Ich glaube, das Spazieren gehen lebt auch davon, dass man sich sagt: Jetzt passiert mal eine Weile einfach nichts. Dieses Sich-Leerlaufen setzt in der Regel erst nach einer gewissen Zeit ein.

Frage: Derzeit sind auch viele Menschen alleine und isoliert zuhause. Kann das Spazieren gehen helfen, dass ihnen nicht die Decke auf den Kopf fällt?

Antwort: Obwohl man vielleicht auch beim Spaziergang alleine ist, hat man unterwegs sinnliche Erlebnisse. Man hört Vögel und Wind – und gerade der Frühling zeigt uns, wie die Natur wieder sprießt. Diese Eindrücke bringen einen mal wieder auf andere Gedanken, gerade in diesem Jahr, in dem man fast nur noch von Corona hört. Es gibt ja Menschen, die haben mit den derzeitigen Umständen psychisch zu kämpfen, und da ist das Abschalten beim Spazieren gehen gerade ganz wichtig. Das kann ein bisschen aus dieser Schwere herausholen.

Frage: Wird der Spaziergeh-Trend auch nach Corona anhalten?

Antwort: Ich denke, in der Zukunft werden mehr Menschen spazieren gehen, als in den letzten Jahren. Und gleichzeitig wird das Thema in der Kommunalpolitik einen anderen Stellenwert bekommen. Denn es wird derzeit für alle offenkundig, dass die Parks und die Wege für die Fußgänger oft zu klein und ungenügend sind. Viele verstehen jetzt: Nicht nur Autos, sondern auch Fußgänger brauchen Platz in den Straßen. Ich hoffe darum sehr, dass sich die Verantwortlichen in der Politik stärker für größere Parks und breitere Fußwege einsetzen werden.

ZUR PERSON: Bertram Weisshaar (58) hat Landschaftsplanung studiert und ist freiberuflich als Spaziergangsforscher und Fotograf in Leipzig tätig. Er schreibt Bücher über das Wandern und Spazieren gehen und gestaltet geführte Wanderungen – etwa mit der «Akademie Landpartie».

Fotocredits: Thomas Eichler

(dpa)

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