Bei seltenen Erkrankungen Hilfe suchen

Berlin – Die Zwillinge Cordelia und Catherine sind gerade sieben Wochen alt, als Cordelia bei einem Spaziergang ihren ersten epileptischen Anfall hat. Für die Familie Woko beginnt damit der erste von vielen Krankenhausaufenthalten, gefolgt von unzähligen Tests.

Doch keiner liefert die Antwort auf die Frage, warum Cordi immer wieder krampft. Erst kurz vor ihrem ersten Geburtstag ist nach einem Gentest klar: Cordelia hat einen CDKL5-Gendefekt, eine sehr seltene Erkrankung des X-Chromosoms. Einen Namen hat ihre Krankheit bis heute nicht. «Ich wusste zwar nicht, was das heißt, auch der Arzt konnte uns nicht viel erklären, trotzdem war ich erst einmal erleichtert», erzählt Esther Woko, Cordelias Mutter.

Über 6000 seltene Erkrankungen sind bisher bekannt und in der Online-Datenbank
Orphanet gelistet. Eine Krankheit gilt nach Definition der EU dann als selten, wenn weniger als 5 von 10.000 Menschen an ihr leiden. In Deutschland gibt es Schätzungen zufolge rund vier Millionen Betroffene, die meisten davon sind Kinder.

Oftmals langer Weg bis zur Diagnose

Cordelia Woko hatte dabei Glück im Unglück: Der behandelnde Arzt kam relativ schnell auf die Idee, einen Gentest zu machen. Häufig müssen Patienten eine regelrechte Arzt-Odyssee über sich ergehen lassen, bis ihre Krankheit benannt werden kann.

«Bis zu sieben Jahre können auf dem Weg zu einer Diagnose vergehen», sagt Miriam Schlangen. Schlangen leitet die Geschäftsstelle des Nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen
(NAMSE). Das Gremium setzt sich für die Verbesserung der Patientenversorgung ein. Erste Anlaufstellen wie Haus- oder Kinderärzte wüssten noch immer zu wenig über seltene Erkrankungen, stellt Schlangen fest. «Daran müssen wir weiter arbeiten.»

Netzwerk und Spezialzentren bieten Hilfe

Dazu kommt: Selbst bei einer definierten seltenen Erkrankung wie der Mukoviszidose, die nur ein Gen betrifft, gibt es über 1000 verschiedene Mutationen und unterschiedlichste Verläufe, erklärt Stephan Kruip. Der Vorsitzende des Vereins Mukoviszidose empfiehlt Betroffenen und Angehörigen, hartnäckig zu bleiben. Wer von Arzt zu Arzt verwiesen wird ohne Hilfe zu finden, kann sich zudem an die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen
(ACHSE) wenden. Das Netzwerk von Selbsthilfeorganisationen unterstützt Betroffene sowie ratsuchende Ärzte und andere Therapeuten. «Eine Diagnose stellt ACHSE freilich nicht», betont Geschäftsführerin Mirjam Mann.

Weitere Ansprechpartner finden Betroffene, Eltern, aber auch Haus- und Fachärzte an speziellen Zentren für seltene Erkrankungen, die im SE-Atlas des Universitätsklinikums Frankfurt aufgeführt sind. Jedes hat einen eigenen Schwerpunkt, die Lotsen dort verweisen deshalb eventuell an andere Ärzte oder Kliniken. Die Idee der Zentren: Experten aus unterschiedlichsten Fachgebieten – etwa Orthopädie, Neurologie und Kardiologie – setzen sich zusammen und diskutieren einen Fall, um wie ein kriminologisches Ermittlerteam gemeinsam zumindest eine Vermutung zu bekommen.

Austausch unter Gleichgesinnten

Betroffene, die ihre Diagnose kennen, finden Gleichgesinnte im ACHSE-Netzwerk Gleichgesinnte – auch wenn es nicht zu jeder Krankheit einen passenden Verein gibt. «Unsere Mitglieder tauschen sich nicht nur über ihre individuellen Krankheitsprobleme aus. Mit ihrem Wissen und ihren umfangreichen Erfahrungen tragen sie dazu bei, Lücken im Gesundheitswesen zu schließen», erklärt Mann. Eine solche Gemeinschaft sei Partner auf Augenhöhe und wisse im Zweifelsfall mehr über die eigene Erkrankung oder die des Kindes als manch ein Arzt, sagt auch Schlangen.

Die Unterstützung aus einer Selbsthilfegruppe hält Woko für unerlässlich. «Alleine sollte man diesen Weg nicht gehen», rät sie. Direkt nach der Diagnose informiert sich die vierfache Mutter über den Gendefekt ihrer Tochter und stößt im Internet auf einen
Verein, den Eltern von CDKL5-Kindern gegründet haben.

Psychologische Unterstüzung

«Durch den Kontakt ging es mir gleich viel besser», berichtet Woko. Die Familien treffen sich regelmäßig. Außerdem haben sie sich zu einer Whatsapp-Gruppe zusammengeschlossen – um sich gegenseitig in schwierigen Situationen zu stützen oder Tipps zu geben.

Woko rät Betroffenen, sich sowohl organisatorische als auch psychologische Hilfe zu holen. Zudem seien Freiräume wichtig. «Man muss auf sich aufpassen», sagt Woko. Sie selbst geht regelmäßig zum Therapeuten. «Man muss sich nicht einbilden, dass man das nicht braucht – egal wie stark man ist.»

Fotocredits: Frank Rumpenhorst,Frank Rumpenhorst,Frank Rumpenhorst,Angelique Tuszakowski,Fabian Helmich,ACHSE e.V.,Frank Rumpenhorst
(dpa/tmn)

(dpa)

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